Tayfun Belgin
Istanbul 2009
GEDANKEN ÜBER CANAN DAĞDELENS ARBEITEN
In spezifischer Hinsicht ist die Kunst von Canan Dağdelen Kulturarbeit. Die Künstlerin bewegt sich zwischen zwei Kulturen, der orientalischen und der abendländischen, und es gelingt ihr – im Sinne einer Synthese – ihre Kunst in dieses Spannungsfeld zu integrieren. Wer Werken von Canan Dağdelen zum ersten Mal begegnet, ist fasziniert von der Vielseitigkeit ihres Oeuvres, das von der Bildfläche ausgeht und in den Raum hinein wandert. Bildkunst wird Raumkunst, wobei das bildhaft Gesehene eine ebenso gleiche Bedeutung innehat wie die Vergegenwärtigung des Raumes.
Vielleicht ist es für eine Grenzgängerin zwischen den Kulturen wie Canan Dağdelen gar nicht anders möglich, als primär mit dem Raum zu arbeiten. Eine Beschränkung auf die Illusionsfähigkeit der Fläche würde ihren Gedanken, ihrem künstlerischen Ansatz zu schnell ein Ende setzen. Der Raum öffnet, er wird Realität, nämlich in dem Maße wie man in ihn eindringt. Canan Dağdelen beherrscht diesen Raum.
Ein im Werk der Künstlerin immer wieder auftauchendes Element ist das Medium Schrift. Bereits in ihren Porzellanschalen und Tontafeln aus den 90er Jahren zieht sich Schrift durch wie ein Leitfaden und verweist auf Geschichte und Geschichten. Wir begegnen in diesen Werken der persönlichen Handschrift der Künstlerin, sowie Schriften aus der Vergangenheit.
In der Folge entwickelt Canan Dağdelen unter bewusster Bezugnahme auf die frühislamische Architektur bald Objekte, die Modelle für sakrale oder auch profane Bauten sein könnten.
Warum gerade diese Formen? Warum gerade eine Kuppel auf einem quadratischen Grundriss und auf den Kopf gestellt?
Zweifellos hat die osmanische Architektur den Gedanken des Zentralraums aus byzantinischen Vorbildern abgeleitet. Für die Eroberer Konstantinopels war die Hagia Sophia – wie für uns heute auch – ein nahezu unerklärliches architektonisches Phänomen. Aus dem zweiräumigen Bursa-Typ entwickelte der Baumeister Sinan im 16. Jahrhundert bald den Zentralraum einer Şehzade-Moschee.
Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Vorbildern bildet für die Werke von Canan Dağdelen eine Art Matrix, von der aus sie Beständigkeit und Veränderlichkeit in Raum- und Zeitkoordinaten reflektiert und deutet.
In neueren Arbeiten wie „NONPLACE dot“ wird die Geschlossenheit des Raumkörpers als architektonisches Prinzip aufgelöst und einer Raumkalligrafie gewidmet. Aluminiumkugeln -an feinen Stahlseilen aufgehängt- formieren sich zu einem Wort und schreiben sich spielerisch in den Raum. Grenzen zwischen Innen und Außen im Sinne gewohnter Raumdefinitionen werden durchlässig und durchschaubar. Linie und Raum, Schrift und Architektur begegnen sich in ungewöhnlicher Synthese. Die Kugeln – auch als Punkte/dots in der zeitgenössischen elektronischen Kommunikationssprache lesbar- tanzen im Raum und stellen, losgelöst von alten und neuen Vorbildern, die Frage nach Verortung und Zugehörigkeit.
aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung NONPLACE dot von Canan Dağdelen
in der Galerie Sankt Georg