DAS ÜBERLEBEN DER FORMEN

Peter Noever

Wien 2004

DAS ÜBERLEBEN DER FORMEN

Die Arbeiten von Canan Dagdelen sind vielschichtig und facettenreich. Immer wieder sind Bezüge zu der Baukunst ihres Kulturkreises zu erkennen, denn ihre Vorliebe gilt der Architektur, besonders jener Vorder- und Zentralasiens. Hier sind im Spannungsfeld zwischen Tradition und Funktion Formen entstanden, die zum festen schöpferischen Repertoire der Künstlerin gehören.

Es ist aber mehr der Blick auf diese Formen, der das genuin Künstlerische und Bedeutungsstiftende ihrer Arbeiten ausmacht. Dieser kulturpoetische und architekturethnologische Blick ist in seiner Konsequenz und Insistenz als durchaus konzeptuell zu verstehen, als ein methodischer Zugang wie Zugriff auf die Modalitäten des Sichtbaren.

Formen sind spezifischer Ausdruck von Gesellschaften und ihrer Selbstbestimmung im Spiegel sich wandelnder Zeiten. Formen sind demnach Aufbau (Konstruktion) und Verfall (Ruine) zugleich. Diese diachrone Logik wird in Dagdelens Werk auf faszinierende Weise synchron gesetzt, indem es zu einer Gleichzeitigkeit – einer buchstäblichen Überblendung – dieser beiden ansonsten diametral entgegengesetzten Entwicklungszustände kommt. So erscheinen uns die Formen wohlvertraut und zugleich irritierend fremd, geradezu archäologisch fern, ja gespenstisch, als wären sie das Echo frühester Zivilisationen. Wir haben es nicht mit einem bloß formalen Experiment zu tun, wird hier doch eine Empfindung zum Ausdruck gebracht, die wohl jeder kennt, der sich in seiner Umgebung fremd gefühlt, die Erfahrung der Fremde gemacht hat. Dieser Zustand der Entfremdung, der den spätkapitalistischen Gesellschaften eigen ist, kehrt – Bild geworden – als Verfremdung wieder. Dagdelens Bilder sind Ikonen dieses Identitätsdilemmas, in ihnen wird das immer wiederkehrende Drama von Suche, Finden und Verlust erzählt. In ihnen wird der unausweichliche Drang zum Unterwegssein thematisch – in seiner Möglichkeit und Unmöglichkeit.

Indem sie sich auf traditionelle, jahrhundertealte Bauformen und ihr elementares Konstruktionsvokabular bezieht, leistet sie aber auch Erinnerungsarbeit, erinnert sie an die Menschen, die unter und innerhalb dieser Formen gelebt und geträumt haben. Die Erinnerungsarbeit geschieht in einer Krypta der Einfühlung und Trauer, die wir nur noch an losen Spuren, an brüchigen Zeichen und Fragmenten einstiger Ganzheiten erkennen können. Indem Dagdelen die entleerte, zur bloßen Hülle verkommene architektonische Form mit diesem Inhalt füllt und somit rehumanisiert, begibt sie sich in die Tradition bedeutender Raumvisionäre der Moderne wie Le Corbusier.

Die fotografischen Arbeiten sind transformativ. Sie transformieren alltägliche Situationen wie die Schritte eines Fußgängers in ein ornamentales Ensemble: die mikroskopischen Farbpunkte, aus denen eine Fotografie zusammengesetzt ist, werden makroskopisch vergrößert, in Keramikreliefs übersetzt und so in eine kristalline Realität transponiert.

Bei dieser Neudimensionierung und Materialisierung der ursprünglichen Farbpunkte handelt es sich um ein verfremdendes Verfahren, das an die Methode der pointillistischen Malerei oder an die vergrößerten Zeitungscomics von Roy Lichtenstein denken lässt.

Das Ergebnis ist eine Noch-Gestalt, weil sie unter der permanenten Möglichkeit ihrer Auflösung steht.

Dagdelens Arbeiten wollen nicht überraschen oder beeindrucken. Nichts ist ihnen fremder als die Logik des Spektakels und des flüchtigen Wohlgefallens. Man findet zu ihnen, wenn man sich auf eine dem Alltag entgegengesetzte Zeitlichkeit einlässt, wenn man sich der Stille aussetzt, Geduld beweist, sich einzufühlen bereit ist, kontempliert. Dann – und nur dann – wird man ihr Anliegen verstehen können: das Überleben der Formen.

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