OHNE GRUND

Andreas Spiegl

Wien 2012

OHNE GRUND

Eine Konsequenz aufklärerischen Denkens besteht darin, für alles, was passiert, einen Grund anzunehmen. Nichts scheint grundlos zu geschehen. Was sich zeigt, wäre demnach immer nur die Wirkung, der eine Ursache vorausgeht. Dieser Mechanismus aus Ursache und Wirkung ist paradigmatischer Natur: Er gilt für die Naturgesetze genauso wie für die Vorstellung von Zeit, die in der Gegenwart immer nur die Konsequenz einer Geschichte erkennt, die ihr als Ursache vorauseilt. Was immer geschieht, hat einen Grund – auch dann, wenn dieser (noch) unbekannt ist. Deshalb erscheint jede Auseinandersetzung mit der Realität als Versuch, einen Grund für diese Realität zu finden und zu definieren. Was sich dann als Realität zeigt, gibt sich als Ergebnis zu erkennen – wenn man so will: als Produkt. Wollte man Politik definieren, dann wäre sie der Versuch, spezifische und ideologisch differente Gründe für die Realität als ursächliches Produkt geltend zu machen und daraus variabel Maßnahmen abzuleiten, die dann die Wirkung von neuen Ursachen haben und eine andere Realität als Konsequenz und Wirkung nach sich ziehen. Wollte man Politik definieren, dann wäre sie auch der Versuch, die Gründe für ökonomische, soziale, kulturelle und politische Fehlfunktionen immer dem ideologisch Differenten als Ursache für diese zuzuschreiben und sich selbst als Grund für diejenigen Wirkungen in der Realität zu erkennen, die dem ideologischen Bild derselben entsprechen. Was dann als Politik erscheint, ist ein Ursachenstreit – ein Streit über den Grund und seine Wirkung. Dieses Paradigma erzeugt ein Gefühl von Angst, wenn man nur Wirkungen zu spüren bekommt, ohne den Grund dafür zu kennen, und ein Gefühl von Ohnmacht, wenn man Wirkungen ertragen muss, für deren Ursachen man nicht verantwortlich ist. Will man Politik definieren, dann ist sie auch der Versuch, manche Ursachen im Verborgenen zu halten, um andere Begründungsfiguren in den Vordergrund zu rücken. Was dann erscheint, ist die paradoxe Vorstellung von einem falschen Grund: die Vorstellung einer Ursache, die keine ist und trotzdem Wirkungen verursachen soll. Auch dieser Diskurs über die falschen Gründe ist Politik. Die Erfahrung dieser Form von Politik produziert mitunter den Eindruck einer grundlosen Debatte, die an den Ursachen vorbeigeht, zugleich aber am Paradigma von Ursache und Wirkung festhält. Nun stellt sich die Frage, welche Mittel der Kritik bleiben, dieses Paradigma zu kritisieren. Die bloße Definition anderer Ursachen und Gründe wäre nicht genug, würde sie doch nur eine weitere Variable ins Spiel bringen und damit den Mechanismus von Ursache und Wirkung bestätigen. Also gilt die Frage nach einer Methode, die sich jenseits dieser Dialektik ansiedelt und die Paradoxie dieses Mechanismus vorstellbar macht.
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