ZEICHEN AUS GLASUR

Manfred Wagner

Wien 1995

ZEICHEN AUS GLASUR

Dass der Umgang mit keramischer Kunst nicht leichtfällt, ist naheliegend. Es belastet nicht nur die Geschichte der Keramik, die nahezu so alt ist wie das menschliche Leben überhaupt, es wiegen die keramischen Kunstwerke der Vergangenheit schwer, die einen großen Höhepunkt im Fin de Siècle erreichten, es ist auch der Alltag mit seinen vielen keramischen Accessoires, der Gebrauchsgegenstand Keramik, der die Komposition belastet.

Canan Dagdelen scheint von all dem unbeeinflusst, vielleicht, weil sie aus einem türkischen Milieu kommt und damit andere Traditionen kennt, vielleicht auch, weil sie an den Ton mit einer neuen Definitionskraft herangeht und sich nicht von der Schablone des Geschirrs, des Alltagsgegenstandes blenden lässt, sondern selbstbewusst zum Bildcharakter greift. Gewiss: Sie kann auch die Schüssel formulieren, präzise, geschmackssicher und mit jenen Ingredienzien, die ihr Hauptthema darstellen. Zeichen aus Glasur – gleichgültig, ob als Schrift diagnostizierbar oder nicht – mit dem nackten Ton zu kontrastieren heißt, zwei gegensätzliche Elemente dialektisch einzubringen, dem Amorphen die gezielte Ordnung gegenüberzustellen, dem Urmaterial das gestaltete Produkt, der Natur der Erde die Kunst des Menschen.

Diesen Ansatz führt die Künstlerin weiter, indem sie auf den Zweckgegenstand verzichtet und sich in die Bildanalogie wagt. Damit wird die Dimension des Funktionalen weggenommen. Autonomie simuliert, die zwar immer noch dekorative Elemente trägt, aber nicht mehr als jedes beliebige andere Bild an der Wand auch. Jetzt sind es oft gestaltete Wörter, die symbolische Konnotationen an sich haben, wenn man sie so verstehen will, und nur Linien sind, wenn man sich zu lesen weigert. Schrift, ein zentrales Thema in der visuellen Kunst der Gegenwart, erlangt auch hier jene Doppelbödigkeit, die sie in allen Versuchen hat. Sie ist Mitteilung und Nonsens, sie ist Grafik und gezeichnetes Material, und alles Verstehen und in welcher Interpretation obliegt allein dem Betrachter. Die Reliefdimension setzt das Schwanken zwischen Zwei- und Dreidimensionalität noch darauf: Hier wird mit minimalistischen Mitteln ein Kompendium künstlerischer Auseinandersetzung angeboten, das in der Herstellung anderer Materialien weit mehr an selbständigen Informationen bräuchte, sich nicht auf das Sosein von Zuständen, die per Hitze (1.070°) erzeugt werden, verlassen könnte.

Der Mehrfachansatz bereichert sich mit dem Aspekt der Veränderung in der Zeit durch Wärme, erzwingt damit die Erinnerung an Organik und gibt der vorhandenen dritten Dimension jene der Zeit hinzu. Hier wird auf Wunder(bare)-Art mit der Auflage, sich zu wundern, ein künstlerischer Prozess vorgeführt, und dabei sind die Ingredienzien so einfach, dass eine Reduktion kaum mehr möglich scheint.

Download als PDF…