Christian Witt-Dörring
Wien 2004
DIE KRAFT DER HEIMATLOSIGKEIT
Zu Canan Dagdelens keramischer Sprache
Canan Dagdelen hat sich mit ihren beiden neusten Arbeiten noch nicht in die Sicherheit der nachpostmodernen Welt zurückgezogen. Sie stellt sich den Fragen, die ein bewusstes Leben für uns bereithält. Um diese auszudrücken, lotet sie Möglichkeiten aus, die von ihrem Material, ihrer Kultur und ihren Lebensumständen vorgegeben sind. Dadurch lässt sie auch uns an dem Prozess der Bewusstseinsfindung teilhaben.
Das Thema ihrer Ausstellung in der Studiensammlung des MAK ist das Zuhausesein, das sie in den größeren Zusammenhang des Heimatbegriffs stellt – ein Stoff, der in seiner Vieldeutigkeit und geschichtlichen Belastung wieder von enormer Brisanz ist. In einer Zeit, in der sich die „letzte Supermacht“ der Welt nach außen abzuschließen beginnt und ihre „inneren Werte“ durch ein „Homeland Security“-Ministerium zu beschützen versucht, in der Einigkeit gegen den äußeren Feind gefordert wird, das Fremde als potenzielle Bedrohung gesehen wird, verliert die gefühlsbetonte Dimension des Begriffs Heimat ihre positive, nährende Kraft und wird zur Bedrohung für den außen stehenden Rest. Das Anderssein bedeutet nicht mehr bereichernde Vielfalt, sondern gefährlichen Wettbewerb. Die Vielfalt der Mentalitäten wird zur Bedrohung der ökonomischen Globalisierung. Die irrationale Kraft des Gefühls wird in ein „rationales“ Korsett gepresst und verkümmert. Immer stärker werden die Bestrebungen, Metaphysisches rational zu vereinnahmen, wie der kürzliche Versuch zeigt, Gott in eine europäische Verfassung einzubringen.