DER KERAMISCHE DUKTUS

Bruno Ast

Chicago 1992

DER KERAMISCHE DUKTUS

Canan Dagdelen ist eine Künstlerin voller Inspiration und eine vollkommene Handwerkerin. Ihre Arbeit wurzelt in der Tradition der Moderne, spiegelt aber strukturell und künstlerisch das ästhetische und geistige Erbe der türkischen Kunst und des türkischen Kunsthandwerks wider, das sich bis in das 8.–12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Diese traditionelle Kunst ist in Anatolien noch heute sehr lebendig, wo von zeitgenössischen Meistern wunderschöne Gebrauchs- und dekorative Gegenstände aus Keramik hergestellt werden. Sie verzieren die Keramiken mit bildlichen Darstellungen und mit Schriftzeichen in kräftigen Farben. Besonders eindrucksvoll wirken die verschlungenen Muster und Linien, die sich aus der Verwendung von Kalligraphie entwickelt haben.

In ihren neuesten Arbeiten hat Canan Dagdelen die alte türkische Tradition der Schrift und der Verwendung von Schrift auf den Keramikobjekten neu interpretiert.

Ihre Objekte sind vollkommen und präzis, soweit dies manuell und maschinell möglich ist. Die Schrift als Ornament löst sich aus der Tradition des Ganzen und Vollständigen und wird ins Fragmentarische – in Symbole  unserer Zeit – dekonstruiert. Die Ornamente sind umgebildete neue Worte, nehmen ein eigenes Leben, einen eigenen Geist an. Sie werden als neu aufgefasst; präsentieren sich nun als begriffliche Abstraktionen denn als literarischer Text oder Botschaft. Diese Ornamente können eine Linie am Horizont oder die Bewegung eines Tänzers ebenso wie den Anfang oder das Ende eines neuen Wortes andeuten. So regen sie den Betrachter an, die Bedeutung im Ganzen zu suchen.

Die keramische Kunst von Canan Dagdelen lässt das Objekt mit der Schrift verschmelzen. Sie hebt Grenzen auf, sie nimmt  weg, spart aus. Zugleich schafft sie reine, minimalistische  Gegenstände und deutet auf ein einfacheres Leben voll innerer Ruhe hin und verleiht damit der Kunst Leben.

Canan Dagdelen ist eine kraftvolle neue Erscheinung in der europäischen Kunstszene. Sie war auf Ausstellungen in Österreich, Deutschland und der Türkei vertreten. Im April 1993 wird sie ihre Werke in einer Einzelausstellung in den USA, in Chicago, Illinois, zeigen.

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