SCHRIFTREISEN UND SCHWEBENDE BAUTEN

Brigitte Borchhardt Birbaumer

Wien 2004

SCHRIFTREISEN UND SCHWEBENDE BAUTEN

Canan Dagdelens Werk zwischen Konzept und Keramik

„Verweilst du in der Welt,
sie flieht als Traum.
Du reisest, ein Geschick
bestimmt den Raum …“[1]

Goethes „West-östlicher Divan“ von 1819 verweist auf das Eins- und Doppeltsein der Welt (als symbolische Naturform dem Ginko-Blatt entsprechend); vermeintliche Urelemente der Dichtung aus einem orientalischen Geist der vorislamischen und vorchristlichen Zeit werden mit Perlenreihen verglichen. Die Perlen bilden Worte und an Schnüren Gedichte; das Perlengleichnis aber steht für den toleranten Dialog zwischen den Kulturen, den Gläubigen und Ungläubigen, im Bagdad des 8. Jahrhunderts.[2]

Die ins Modul gewandelte Kugelform der Perle in ihren vielfältigen Möglichkeiten für Interpretationen ist Ausgangspunkt für die neuesten künstlerischen Konzepte von Canan Dagdelen. Eine Keramikerin als „Konzept“-Künstlerin ist ungewöhnlich, jedoch ist auch die Zugehörigkeit zur östlichen wie zur westlichen Kultur nicht alltäglich (Dagdelen, 1960 in Istanbul geboren, lebt seit 1980 in Österreich; die Doppelstaatsbürgerin studierte an Kunst- und Wirtschaftsuniversitäten in Wien). Die Künstlerin interessiert sich für die Kongruenzen von Sprache, Form und Zahl. Dazu ist eine Untersuchung der Kombination von kunstexternen und -internen Repräsentationen notwendig, aber auch der Selbstbezüglichkeit von überlieferten Zeichen wie dem Punkt als Kugel und als Modul und die für die sogenannte Postmoderne typische historische Betrachtung zurück bis zu den Anfängen städtischer Kultur in Mesopotamien. Die damals in Lehm oder Mörtel gesteckten Tonstifte oder die frühen Ziegeltechniken können durchaus mit den fotografischen Rastern oder digitalen Gitterstrukturen in Analogie gebracht werden. Es ist fast unglaublich zu sehen: Das aus der sumerischen Epoche stammende technische Verfahren des „Stiftmosaiks“ kann der gegenwärtigen Rezeption der „dot.coms“ mit ihrer Pixelauflösung einer „Fotografie nach der Fotografie“[3] optisch entsprechen.

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Schriftreisen und schwebende Bauten

Canan Dagdelens Werk zwischen Konzept und Keramik

„Verweilst du in der Welt,

sie flieht als Traum.

Du reisest, ein Geschick

bestimmt den Raum …“[1]

Goethes „West-östlicher Divan“ von 1819 verweist auf das Eins- und Doppeltsein der Welt (als symbolische Naturform dem Ginko-Blatt entsprechend); vermeintliche Urelemente der Dichtung aus einem orientalischen Geist der vorislamischen und vorchristlichen Zeit werden mit Perlenreihen verglichen. Die Perlen bilden Worte und an Schnüren Gedichte; das Perlengleichnis aber steht für den toleranten Dialog zwischen den Kulturen, den Gläubigen und Ungläubigen, im Bagdad des 8. Jahrhunderts.[2]

Die ins Modul gewandelte Kugelform der Perle in ihren vielfältigen Möglichkeiten für Interpretationen ist Ausgangspunkt für die neuesten künstlerischen Konzepte von Canan Dagdelen. Eine Keramikerin als „Konzept“-Künstlerin ist ungewöhnlich, jedoch ist auch die Zugehörigkeit zur östlichen wie zur westlichen Kultur nicht alltäglich (Dagdelen, 1960 in Istanbul geboren, lebt seit 1980 in Österreich; die Doppelstaatsbürgerin studierte an Kunst- und Wirtschaftsuniversitäten in Wien). Die Künstlerin interessiert sich für die Kongruenzen von Sprache, Form und Zahl. Dazu ist eine Untersuchung der Kombination von kunstexternen und -internen Repräsentationen notwendig, aber auch der Selbstbezüglichkeit von überlieferten Zeichen wie dem Punkt als Kugel und als Modul und die für die sogenannte Postmoderne typische historische Betrachtung zurück bis zu den Anfängen städtischer Kultur in Mesopotamien. Die damals in Lehm oder Mörtel gesteckten Tonstifte oder die frühen Ziegeltechniken können durchaus mit den fotografischen Rastern oder digitalen Gitterstrukturen in Analogie gebracht werden. Es ist fast unglaublich zu sehen: Das aus der sumerischen Epoche stammende technische Verfahren des „Stiftmosaiks“ kann der gegenwärtigen Rezeption der „dot.coms“ mit ihrer Pixelauflösung einer „Fotografie nach der Fotografie“[3] optisch entsprechen.

Jedoch nützt die Künstlerin diese Wandlung der archaischen keramischen Technik für eine Erweiterung dessen, was wir zeitweise noch immer „Skulptur“ nennen, obwohl es sich längst um Objektkunst handelt. In ihrem Fall ist mit Erika Billeters frühem Spürsinn für den Wandel „angewandter Künste“ seit 1980 vorzugehen, die schon damals sagte, es gäbe in Wahrheit keine Grenzgänger, sondern nur Bereiche, die in der Kunstgeschichte fälschlicherweise abgegrenzt werden.[4] Dagdelen muss dabei die Präzision des Handwerklichen nicht verlassen und kann auch alte Materialien wie Limoges-Porzellan für den Guss der Kugeln verwenden. Das Natur- und Urmaterial Lehm, die Urbehausung der Jurte (Rundzelt) und das Modell eines zentralen Kuppelbaus über vier- oder sechseckigem Grundriss (wie er in der römischen, christlichen und islamischen Kultur vor allem als Grabbau diente) werden ebenso inhaltliche Mitteilung – die neue Form des Nomadentums, Verlust des Begriffs „Heimat“ oder Wandlung in ein neues globales Zuhausesein: „yurt tutmusch dot“.

Ungefähr gleichzeitig mit dem Stiftmosaik haben die Menschen auch die Schrift (ca. 3500 v. Chr. auf Tontafeln und Siegeln) aus Bild und Symbol entwickelt; sie spielt bereits in den Porzellanschalen Dagdelens der frühen neunziger Jahre eine wesentliche Rolle. In den ab Ende der neunziger Jahre folgenden weißen Tontafeln sind neben den ziegelartigen Teilungen viele Schriften integriert, die mit Prägedruck, aber auch mit Stempeln (kleinen Druckstöcken) aufgebracht werden und wie eine Gravur figurale Motive teilweise als „WRITE-white-OUT“ überziehen. Das Sprachspiel, in vielen Titeln der Werke und Ausstellungen zu finden, ist wesentliches Merkmal der experimentellen Dichtung des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Europa. Der Ururgroßvater der Künstlerin war Ende des 19. Jahrhunderts als Kalligraph tätig; er schrieb Suren des Korans. Beides vereint sich in (der Erinnerung und damit) dem scheinbar architektonisch gebauten Gefüge der Tontafeln, die mit ihrem Rohweißcharakter auch auf die Unschuld der Kindheit verweisen. Die handelnden Personen sind demnach Selbstbildnisse oder die Figur der Ayschegül aus einem türkischen Kinderbuch. Die Identifikationen im Wandel des Mädchens zur Frau und eine Wiedervereinigung von Schrift und Bild bringen individuelle Mythologien und Zivilisationsaufbrüche in den heutigen Wahrnehmungskontext. Die Gesichter und Figuren sind von Fotos übertragen und wie Stempelbilder in den Ton gedrückt. Auf dem Boden mutieren diese Objekte zur Grabplatte und die Handschrift darauf erinnert an Bekanntes: Wie bei den beschrifteten Porzellanschalen tritt ein Déjà-vu-Erlebnis auf.[5]

Mit „YURT TUTMUSCH dot“ und „AT HOME dot“ geht Canan Dagdelen aber noch ein Stück weiter auf dem Weg ihrer komplexen Konzepte: Architektur wird in Letzterem nun wie im virtuellen Raum durch „dots“, im realen Raum durch 546 von oben gehängte Porzellankugeln erfahrbar – als auf dem Kopf stehendes Modell eines überkuppelten Zentralbaus. Dieser – der räumlichere – Teil der zweiteiligen Installation in der MAK-Studiensammlung imaginiert das, was die Künstlerin schon in vielen andersfarbigen und auch formal unterschiedlichen Tonmodellen als Wandobjekten (z. B. in der Serie „HOMELY“ des Linzer Lentos-Museums) klein exerziert hat, als schwebendes Gebilde von zwei mal zwei mal zwei Metern. Auf den Kopf gestellt, wird der Heimatbegriff der nicht mehr begehbaren, aber für den Blick durchlässigen Behausung, das neue Nomadentum der Wirtschaftsflüchtlinge und Touristen, als Suche nach einem Identitätssymbol definiert. Fühlen sich die Menschen entwurzelt oder ist es nur die Empfindung des Wandels der Gesellschaft?

Canan Dagdelen lässt die Vielschichtigkeit der Interpretationen offen – sie gibt nur an, dass dieser schwebende Unterschlupf auf die frühislamischen Bauten im Osten der Türkei entlang der Seidenstraße verweist, die sie in ihrer Form faszinieren, auch ihre Ziegelmauern –, in den Werken selbst ist der Bezug zu der aktuellen Frage des „Sesshaftseins“ der Menschen in den neuen Gesellschaftssystemen immer wesentlich. In ihrer Arbeit „UPTURN UPROOT“, die in den Niederlanden im European Ceramic Work Centre von ’s-Hertogenbosch entwickelt wurde, kehrt sie einen anderen Bau, nämlich einen Sakralbau, um. Dabei werden die einzelnen Architekturelemente (die Kuppel, „UPTURN“, mit dem Boden, „UPROOT“) vertauscht. Auf dem sechseckigen Grundriss, der in fünf Elementen von der Decke gehängt ist, befinden sich drei Sujets: Ein weiß in naturweiß eingeprägtes Fotodetail zeigt die Künstlerin als Kleinkind, rot auf weiß ein chinesisches Mädchen, eine junge Holländerin, blau auf weiß die Abbildung des Werks „AT-blue-HOME“ (ein blauer Ziegelzentralbau mit Kuppel). Die spärlich abgebildeten Fotosujets sind ähnlich den Stempeln[6] mit Inschriftdetails oder Insekten so etwas wie Einschreibungen im Ton – wie schon in den weißen vielteiligen Wandtafeln und Bodenplatten davor.

Schrift kann aber auch in einzelnen „dots“ (mit Kugeln) im Raum schweben – die Perlschnur wurde so zum Schriftzug „TAKE PART “ des luftigen Objekts „poetdotgardendot“ 2003 in der Galerie Apel in Istanbul, parallel zur dortigen Biennale. Derart räumlich gedacht inszeniert, bringt Dagdelen die ihr wesentliche Sprache (denkbar auch bei eventuellem Bildverbot) und die Architektur (eines faszinierend dazu passenden Innenraums mit Ziegelwänden) wieder zusammen. In der Galerie Atrium ed Arte in Wien hat sie dann 2004 in der Ausstellung „HOMELIKE dot“ das Objekt „BODEN dot“ aus grünen Porzellankugeln unter dem Plafond schweben lassen, von Grün oder Blau ist sie aber für die Installation im MAK abgekommen, da ihr die symbolische Belastung dieser Farbtöne zu hoch ist: „AT HOME dot“ ist daher in einem neutraleren lehmigen Ockerfarbton gehalten. Dies hat auch den Vorteil, die archaische Ferne des Urstoffs zum Bauen verständlicher vorzubringen.

Auch wenn in beiden Objekten der Installation „yurt tutmusch dot“ die Schriftzüge wegfallen, und in einem auch die fotografischen Bilder, bleiben Wortspiel und Architektur wesentlich: Es ist auch als Puzzle die in Umkehr erkennbare Architekturform aus dem vorderasiatischen Raum. Die Kugeln, aus Limoges-Porzellan gegossen, bleiben in ihrer ursprünglichen Form mit Gussstegen und Unebenheiten, die jede von der anderen unterschiedlich macht. Das kann aber eigentlich nur mehr in Nahsicht oder haptisch erfahren werden – doch diese Einmaligkeit des handwerklichen Einzelelements zeigt uns auch, dass alte Vorstellungen, die Kunst in einem kultisch-rituellen Zusammenhang erst verständlich machen (Dinge, die oft keinem Menschen sichtbar wurden und ehedem nur für Gott geschaffen waren), durchaus heute von Künstlerinnen und Künstlern mit wissenschaftlicher Recherche wieder sichtbar gemacht werden. Dazu ist das Paradoxe der Unterschiedlichkeit in einer endlosen Serie natürlich auch wesentlich.

Dem Einschreiben oder -prägen ähnlich ist auch der Körperabdruck, der die Nouveaux Réalistes genauso faszinierte wie die Aktionisten. Diesen ihren eigenen Abdruck hat Dagdelen in ’s-Hertogenbosch in einer Arbeit innerhalb der Gruppe „UPTURN UPROOT“ auch in eine drei Zentimeter hohe und 105 mal 65,5 Zentimeter große gebetsteppichartige (wieder ein Déjà-vu!) Tonbasis fixiert. Beides steht also sozusagen für eine Art Signatur der Künstlerin und stellt gleichzeitig die Frage des Kunstmachens (die persönliche Handschrift) und des authentischen Werks. Gleich dem islamischen Gebet oder auch schon der Proskynesis der Byzantiner ist jene Stellung eingenommen, bei der Stirn, Knie, Füße und Hände den Boden berühren und sich damit in den Ton eindrücken. Auch die abstützenden Arme für das Aufrichten sind schwach sichtbar. Der Zeitablauf zeigt sich in der dreimaligen Ansicht der Zehen, die durch eine dabei rot bemalte Fußsohle wie blau bemalte Stirn besonders hervortreten, während die sich tief eingrabenden Knie Mulden ohne Farbe bilden. Hinter den Zehen ist die Basis ausgebuchtet, da das Gewicht des Körpers in der Bewegung des Aufstehens und Niederkniens nach außen drückt.

In diesem Werk zeigen sich Berührungspunkte von Dagdelen zu bedeutenden Künstlerinnen wie Adriena Simotová und ihren subtilen Körperabdruckporträts aus Papier der frühen neunziger Jahre oder aber Milica Tomic’ Videoinstallation von 1997, „XY ungelöst“, mit Abdrücken des Körpers im Schnee, um auf die Regellosigkeit innerhalb politischer Systeme des ehemaligen Ostblocks und auf dem Balkan hinzuweisen. Der verschwundene Körper dieser Abdrücke hat immer auch mit Verletzung, Tod und Krieg zu tun, das Datum 2001 ist da bei Dagdelen auch kein Zufall. Die Rahmenbedingungen gegenwärtiger Kultureinrichtungen mit bleibend ideologischen oder meist männerbündlerischen Seilschaftsstrukturen sind eine weitere Assoziationsmöglichkeit dieser Leerstellen.

Schrift im Einsatz von Interdependenzen zwischen den Kulturen aller Himmelsrichtungen ist neben dem Medium Fotografie (und Video) auch Wesenszug der Kunst Shirin Neshats, die in einem Land des Ostens (Iran) geboren wurde und im Westen (New York) lebt und arbeitet. Dabei wird auch der Tschador als traditionelle Verhüllung der Frauen im Islam zur Diskussion gestellt. Der Tschador als Verweigerung gegenüber den kapitalistischen und kolonialistischen Ideologien des Westens – nicht seine Seite der Unterdrückung, mit der allein wir im Westen ihn assoziieren –, aber auch die bleibende Metapher der Frau in dieser Kleidung als Nationalkörper geben die Brüche wieder, die dabei gesellschaftlich zum Vorschein kommen. Als privater „Wohnort“ sozusagen, der in einigen Fotografien (aus Wien 2002) und Tonobjekten („WOHNORT der gute Ort“, 2002–2004) auch bei Dagdelen als Zeichen einer Zugehörigkeit zu einer Religion wie Region und eher weniger zu einer feministischen Anklage eines patriarchalischen Systems herangezogen wird.

An der Hand der Frau mit knöchellangem Rock und Kopftuch auf dem Foto – im multikulturellen Wien von 2002 – ist ein kleines Mädchen in einer kaum zuordenbaren internationalen Bekleidung und Frisur zu sehen. Das Thema der ersten Schritte, die ein kleiner Mensch in der Welt an der Hand der Eltern macht, hat Dagdelen bereits 2000 in der Ausstellung „red/white“ in der Galerie Siyah Beyaz in Ankara herangezogen. Das Bodenobjekt „FIRST-red-STEP“ zeigt auf einer im Sechseck doppelt geschichteten Ziegelbasis ein Kind schattenhaft mit seiner Mutter im übertragenen Fotonegativ. Darüber an der Wand ist in „FREE-red-STEP“ das Kind allein im Sprung nach vorne zu sehen: Die Loslösung hat stattgefunden.[7]

Nun wird das archaische Motiv in „YURT TUTMUSCH dot“ mit Hilfe von fast dreitausend Tonstiften (die wie kegelförmige Zelte oder durch die nötigen kleinen Brandlöcher wie miniaturhafte Höhlenkirchen von Göreme anmuten), deren zylindrische Basis in beige-rötlich-gelbe Farben getaucht ist, in einen Lehmgrund gesteckt. Die Sumerer haben auch zuweilen Mörtel als Grundstoff für diese Mosaiken verwendet, die gleichzeitig in ihrer Schwere die Mauern verstärkten. Sichtbar bleiben nach vorne nur die kreisförmigen verschieden gefärbten Grundflächen der Stifte. Damals wurden meist ornamentale Muster auch als Nachahmung der ursprünglich textilen Wände gestaltet.[8]

In Dagdelens Werk mit übertragener Fotografie ist vom textilen Wandschmuckcharakter nichts mehr zu spüren, stattdessen können wir auf die Kreisform mühelos die digitalen Pixel der Computerbilder unserer Zeit oder auch fotografische Raster übertragen, denn unser Denken und unsere Optik sind durch Foto, Fernsehen, Video und Film, und eben vor allem den Computer, geprägt. Es ist auch kein Zufall, dass in der nächsten Ausstellungseinladung an die Künstlerin im Herbst 2004 zur Gruppenausstellung „+ positive“ im Kunsthaus von Meran die Werke einer Jenny Holzer nahegerückt werden. Die amerikanische Künstlerin nützt die Architektur für ihre digitalen Schriftbänder, die meist als Waffe gegen jede Form von Rassismus und antidemokratisches Verhalten gerichtet sind. Canan Dagdelen wandelt die digitalen Codes der Lichtschrift vom Immateriellen in materielle Tonkegel zurück, die sie als Mosaikobjekt in die Lehmbasis an der Wand drückt. Und sie nützt die Sprache in ihrer Vielfalt (auch historische, schon tote Sprachen) als Waffe gegen Intoleranz; mit dem Sprachspiel weist sie auf das Vergessen hin – das verrät sich auch in ihren Werktiteln.

Der wie in einem Wappen nach unten weisende bogenförmige Abschluss des Stiftmosaiks ist in der Studiensammlung des MAK die Antwort auf die Gegebenheiten des Kellerraumes: Die Nischenform und das industrielle Längstonnengewölbe werden, auf den Kopf gestellt, andeutungsweise wiederholt. Zum reliefhaften „YURT TUTMUSCH dot“ ist natürlich auch das schwebende architektonische Objekt „AT HOME dot“ auf die Proportionen des Ausstellungsraums abgestimmt und davor in einem verkleinerten Kartonmodell erprobt: Das konzeptuelle Denken findet im Raum statt. Beide keramischen Arbeiten verweisen auf Monumente der Vergangenheit und ziehen so die Debatte um den Denkmalcharakter eines aktuellen Werks wieder in die Inhaltlichkeit mit hinein. Doch bleibt die keramische Technik immer optisch gesehen (vom Gefühl her) leicht (auch wenn eine Arbeit schwer sein kann) und mehr in Korrespondenz mit dem Bannen der Objekte in der Fotografie.

In unserer Zeit, da die Vorherrschaft des Computers, von Video und Fernsehen die Handschrift langsam überflüssig macht, wird mit diesen Werken die Rückkehr in Zeiten, da die mündliche Literatur auf andere Weise wesentlich war, ein wahrnehmbarer Prozess (auch wenn er Jahrtausende gedauert hat). Auch das Foto durchläuft seine Möglichkeiten Ikon, Symbol und Index in der Analyse des visuellen Bildes. In der Frage, ob das wahr ist, was wir wahrnehmen – einen verkehrten überkuppelten Zentralbau und eine Mutter-Kind-Szene –, ist auch rezentes Wissen um den zerstörten Wahrheitsgehalt der Fotografie spürbar. Es kann alles auch längst anders sein, die Sicherheit, Wahrheit zu finden, ist so relativ wie die, Heimat in der Fremde zu haben.

Die romantische Subjektivitätsdebatte der Künstlersignatur bezieht auch das Foto als die Kommunikationsform im Kontext einer kapitalistischen Weltordnung mit ein. Diskutiert werden der Mythos der universellen Bildsprache der Fotografie und ihr Wert als „sentimentaler Geldschein“[9]. Dem Vorteil der Stillosigkeit und Anonymisierung dieser Kunstform steht ein fragwürdiger Denkmalcharakter trotz Lösung der Form von der Materie gegenüber. Dagdelen packt all diese Probleme mit einem Umdrehen der Mittel an. Sie gibt dem digitalen Rasterbild der „dot.coms“ das archaische Material Ton zurück und stellt damit alles scheinbar Geklärte wieder in Frage. Fotografie und Handwerk in Kombination befreien sie von der großen Geste oder auch nur der Belehrung für die Betrachterinnen oder Betrachter. Die klugen Konnotationen lassen eine Offenheit zu, wie sie in der politischen Diskussion, besonders in Österreich, nicht zu finden ist.

Der aus Porzellankugeln definierte (Sakral-)Bau ist in seiner Transparenz von innen und außen eine Art dreidimensionales Simulakrum (wie das zweidimensionale Foto), denn er wird Punkt für Punkt (Kugel für Kugel) dem auf dem Kopf stehenden Original angeglichen.[10] Auch das Serielle im Herstellungsprozess der Fotografie ist in der Vielteiligkeit gleichen Objektreihen vergleichbar, die ähnlich einem Readymade wären, wären sie nicht alle durch ihre handwerkliche Herstellung mit verschiedenen Gussstegen und Unebenheiten ausgestattet. Die Obsession für „dots“ sprach die Kunstkritik schon der in den sechziger Jahren aus der japanischen Gutai-Gruppe kommenden, aber in New York arbeitenden Künstlerin Yayoi Kusama zu. Sie malte „dots“ auf Körper, streute industriell hergestellte verspiegelte Kugeln in die Galerien und Landschaften als „Narcissus Garden“ und protestierte mit ihren Aktionen als „Dot Princess“ für eine autonome Kunst, für Freiheit durch Nacktheit, gegen Krieg und andere gesellschaftliche Missstände. Vor allem aber vermittelte schon sie zwischen Osten und Westen. Mehr als tausendzweihundert Jahre nach der Erfindung des Perlengleichnisses und fünftausend Jahre nach den Stiftmosaiken von Uruk genügt der Blick auf seinen geistigen Ursprungsort Bagdad heute, um zu wissen: Wir werden noch viele Vermittlerinnen wie Canan Dagdelen in Sachen Toleranz zwischen den Kulturen benötigen.


[1] Im „Buch der Betrachtungen“ („Tefkir Nameh“) spricht Dschelâl-Eddin Rumî, in: J. W. v. Goethe: West-östlicher Divan, Ausgabe M. Rychner, Zürich 1952, S. 49.

[2] Damals lebten Juden, Christen und Moslems friedlich nebeneinander. Abaelard und Lull folgen dieser Überlieferung im 12. bzw. 13. Jahrhundert gegen den Kreuzzugsgedanken mit ihren Gesprächen zwischen den Weltreligionen, Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“ trägt den Gedanken weiter.

[3] Dieser Begriff ist nicht ganz glücklich; siehe dazu P. Lunenfeld: „Digitale Fotografie. Das dubitative Bild“, in: H. Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, Frankfurt a. M. 2002, S. 158 ff.

[4] E. Billeter: „Textilkunst im Aufwind“, in: Essays zu Kunst und Fotografie von 1965 bis heute, Bern 1999, S. 267.

[5] Das Déjà-vu-Erlebnis der Autorin in archäologische Gefilde des Alten Orients geht auf eine Begegnung mit dem ersten Katalog Canan Dagdelens zurück: Die beschrifteten Keramiken und Tonplattengraffiti haben Anfang der neunziger Jahre, als diese Technik in der abklingenden feministischen Debatte als Sakrileg bzw. einfach nur als langweilig betrachtet wurde, sofort die spannende und zeitgemäße Überschreitung des Handwerklichen fühlen lassen. S. Schaschl beschreibt das ähnlich in Canan Dagdelens Katalog „at home“ von 2001.

[6] Die Stempel sind Fundstücke der Künstlerin aus einem Antiquitätengeschäft, sie scheinen alle Druckstöcke für wissenschaftliche Bücher der Medizin, Zoologie und Archäologie gewesen zu sein. Identifizierbar sind nur mehr wenige mit Schrift, die für das Corpus der lykischen Inschriften von 1901 gedient haben.

[7] Canan Dagdelen (Hg.): „at home“, Ausstellungskatalog, Wien 2001, S. 26/27.

[8] An dieser Stelle sollte an die in Wien wirkenden Theoretiker Gottfried Semper und Josef Strzygowski und ihre Thesen zu Frühformen der Kunst erinnert werden. Für Semper geht die Kunst überhaupt vom Textilen aus, da in den Anfängen der Menschheit nur Zelte und Bekleidung eine kunstvolle Gestaltung (nach positivistischer Ansicht des 19. Jahrhunderts) benötigten. Strzygowskis Verbindung von Orient und Europa durch einen Vergleich der armenischen Kirchen von Ani mit den Bauten der Romanik ist zwar widerlegt, jedoch kommt ihm das Verdienst zu, die Bedeutung des Orients für die europäische Kunst erkannt zu haben.

Die Stiftmosaiken der vorbabylonischen Zeit und die ersten Siegel haben tatsächlich nicht nur zeitliche Gemeinsamkeiten: Der „Brokatstil“ auf den Siegeln verweist auf die Entwicklung der Schrift vom Bildsymbol über Mytho- und Ideogramm zum Buchstaben in dieser Epoche.

[9] A. Sekula: „Der Handel mit Fotografien“, in: Paradigma Fotografie, siehe Anm. 3, S. 255 ff.

[10] C. S. Peirce: „Die Kunst des Räsonierens“, in: Semiotische Schriften, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1, S. 193.